- Messe
Taktgeber im digitalen Produktionszeitalter
Nachhaltig, autonom, intelligent, rein: Von selbstlernenden Robotern für Feld und Fabrik über modernste Reinraumtechnologien, Verfahren zur Erklärbarkeit von maschinellem Lernen bis hin zu Softwaretools für die optimierte Produktion – das Fraunhofer IPA zeigt auf der automatica von 21. bis 24. Juni 2022 eine Fülle von Anwendungen und Services für die automatisierte Produktion.
Mit vier Clustern geht die Präsenzmesse automatica nach coronabedingter Pause in diesem Sommer wieder an den Start: »Digitale Transformation«, »Künstliche Intelligenz«, »Mensch und Maschine« und »Nachhaltige Produktion « – vier Themen, an denen auch das Fraunhofer IPA aus Stuttgart intensiv forscht und für die es Innovationen umsetzt. Auf der Messe werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts gebündelt auf 240 Quadratmetern zeigen, was heute bereits möglich ist und wohin die Reise bei der Automatisierung gehen wird.
Outdoor-Roboter für eine nachhaltige Landwirtschaft
Diese Reise muss nicht immer in der Fabrik stattfinden, wie das Exponat zur Landwirtschaftsrobotik zeigt. Der Agrarroboter »CURT«, den der Wissenschaftler Kevin Bregler und sein Team entwickelt haben, dient der mechanischen Beikrautregulierung. So soll CURT dafür sorgen, dass weniger Pestizide im Pflanzenschutz eingesetzt werden müssen, ein Komplettverzicht auf Herbizide sogar möglich werden kann und damit eine ökologisch wie ökonomisch verträgliche Landwirtschaft entsteht.
Das Exponat zeigt ein Robotersystem, dessen Hardware und Software vollständig am Fraunhofer IPA entwickelt worden sind. Eine wichtige Hardwarekomponente ist beispielsweise der Manipulator, der das Beikraut energieeffizient und umweltschonend entfernt. Softwareseitig sind insbesondere die Navigation und die Bildverarbeitung wichtige Funktionen. So kann der Roboter auch bei schwierigen dynamischen Bedingungen auf den Feldern autonom und sicher seinen Weg finden sowie einzelne Pflanzen, Pflanzenreihen und das zu entfernende Beikraut erkennen. Die gesammelten Daten können überdies dazu beitragen, dass mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) Prozesse und Entscheidungen effizienter und autonomer getroffen werden können. Der Roboter steht sinnbildlich für zahlreiche Aktivitäten des Instituts rund um eine ressourcenschonende und nachhaltige Landwirtschaft.
Automatisierungspotenziale systematisch ermitteln
Wieder zurück auf dem Shopfloor: Hier beschäftigen sich viele Unternehmen mit der Frage, ob und wie sie ihre Montageaufgaben automatisieren können. Bereits seit Jahren bietet das Fraunhofer IPA für diese Frage die Automatisierungs-Potenzialanalyse (APA). Zunächst war die APA an das Wissen eines Automatisierungsexperten geknüpft. Eine neue App macht dieses Wissen nun einfacher zugänglich. Sie leitet Anwender an, die eigenen Montageprozesse zu analysieren, wertet die Antworten aus und informiert über Automatisierungspotenziale. »Mit unserer App kann jeder zum Experten in der Bewertung von Montageprozessen werden«, erklärt Joshua Beck, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer IPA arbeitet und die App mitentwickelt hat. Indem die App technische und wirtschaftliche Aspekte berücksichtigt, bietet sie eine umfangreiche Datenbasis für Investitionsentscheidungen. Sie kann über einen einfachen Lizenzvertrag für den Testeinsatz bezogen werden. Zudem gibt es am Institut einen Demonstrator zu Schulungszwecken.
Schlauer montieren
Eine Software für die Montageautomatisierung ist NeuroCAD. Sie analysiert mithilfe maschineller Lernverfahren Bauteileigenschaften und ermittelt daraus eine Einschätzung, inwieweit sich ein Bauteil für eine Montageautomatisierung eignet. Anwender können auf https://neurocad-dev.web.app/dashboard ihre STEP-Dateien kostenlos hochladen und erfahren innerhalb weniger Sekunden, wie einfach oder schwer ein Bauteil zu vereinzeln ist. Außerdem bewertet das Tool die Greifflächen und die Ausrichtbarkeit des Bauteils. Zusätzlich nennt das neuronale Netz eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass es mit seinem Ergebnis richtigliegt. NeuroCAD hilft, unvorteilhafte Bauteilkonstruktionen zu vermeiden und Montageprozesse zu beschleunigen.
Der pitasc-Systembaukasten zur Programmierung kraftgeregelter Montageprozesse zeigt, wie bisher manuell ausgeführte Prozesse wie das Klipsen, Nieten oder Schrauben wirtschaftlich sinnvoll automatisierbar sind. »Bisher war es erforderlich, ein Robotersystem für jede Anwendung weitgehend neu zu programmieren. Mit unserer Software sind einmal modellierte Aufgaben schnell auf neue Produktvarianten, Produkte und sogar auf Roboter anderer Hersteller übertragbar, indem lediglich die Parameter angepasst werden«, sagt Frank Nägele, Leiter der Gruppe Roboterprogrammierung und -regelung am Fraunhofer IPA. Die Software ist ähnlich einem Baukastensystem strukturiert und ermöglicht, Montageprozesse modular zu programmieren: Sie enthält viele vorgefertigte und wiederverwendbare Programmbausteine, die bei der Einrichtung eines Robotersystems individuell zusammengestellt werden können. pitasc ist bereit für den Einsatz in Pilotanwendungen, die die Wissenschaftler gerne gemeinsam mit Unternehmen umsetzen möchten.
Grundlegende Technologie für alle Leistungen der neuen Software »ARCaide Assembly Suite« ist eine KI, die sogenannte STEP-Dateien analysiert und auswertet. Diese informationsreichen Dateien können von jedem CAD-System generiert werden und liefern der »3D-Analyse-KI« alle notwendigen Informationen, um strukturierte Montageinformationen präzise abzuleiten. Eine zweite Softwarekomponente von ARCaide ist der »Assembly Composer«. Dieser liest die extrahierten Montageinformationen aus der STEP-Datei aus und speist diese in ein grafisches Tool für die Montageplanung ein. Das Tool zeigt Fachkräften montagerelevante Informationen vereinfacht grafisch an, sodass sie die Montage spielend einfach und fehlerfrei planen können. Die KI-Montageassistenz »KIM« komplettiert das Trio an Softwarekomponenten. Sie erstellt automatisch und kostengünstig Montageassistenzen, die die Monteurinnen und Monteure interaktiv unterstützen. Die Assistenz ist variabel und kann beispielsweise eine 2D- oder 3D-basierte Assistenz sein oder auch auf Augmented Reality basieren.
Lernende Roboter dank KI
Nicht nur die Montage, sondern auch der Griff-in-die- Kiste ist mitunter noch eine Herausforderung für die Automatisierung. Mit dem Exponat AI Picking zeigt das Fraunhofer IPA, wie maschinelle Lernverfahren und Simulationen die Anwendung hinsichtlich Autonomie und Leistungsfähigkeit signifikant verbessern.
Die Wissenschaftler führen dies am Beispiel eines Roboters vor, der Objekte aus undefinierter Lage aus einer Kiste oder von einer Palette greift. Eine auf KI basierende Objektlageschätzung liefert hierfür robuste und akkurate Objektlagen in wenigen Millisekunden. »Neue Objekte lassen sich auf Basis eines CAD-Modells schnell und einfach einlernen«, erklärt Projektleiter Felix Spenrath. »Die Software kann zudem Verhakungen detektieren und lösen und auch mit Verpackungsmaterial robust umgehen.« Der Roboter wurde bereits in der Simulation umfassend trainiert und dieses Wissen dann auf die reale Anwendung übertragen. Greifposen und -strategien werden basierend auf diesem Wissen automatisch generiert und bewertet. Eine intuitive Bedienoberfläche komplettiert die Anwendung.
Neben dem Greifen profitiert auch die Montage von selbstlernenden Robotern. Wie dies gelingt, zeigt das Exponat des Verbundforschungsprojekts rob-aKademI. Das Projekt hat das Ziel, die flexible Roboterprogrammierung für Montageaufgaben mit wenig Aufwand zu ermöglichen. Es adressiert vornehmlich Unternehmen, die einen einfachen, aber zukunftsfähigen Einstieg in die roboterbasierte Montageautomatisierung suchen. Hierfür ist eine Simulationsumgebung entstanden, in welcher der Roboter auf Basis von CAD-Daten und mithilfe der KI-Methode des »Reinforcement Learning«, also dem Prinzip aus Versuch und Irrtum, das Montieren lernt. Er lernt dabei auch, mit Toleranzen des Werkstücks oder Ungenauigkeiten im Prozess umzugehen. So soll eine roboterbasierte robuste Montage bis hin zu Losgröße 1 möglich werden. Eine Roboterzelle wird ein konkretes Einsatzszenario der Technologien aufzeigen.
Kontaminationsfrei produzieren dank »zweiter Haut«
Nicht nur eine autonomere, sondern auch eine ultrareine Produktion ist immer gefragter. »Reine Produktionsumfelder ermöglichen die Hightech-Technologien der Zukunft«, erklärt Udo Gommel, Leiter der Abteilung Reinst- und Mikroproduktion am Fraunhofer IPA. »Die Schlüsseltechnologien von morgen kommen nur mit Reinheitstechnik voran. Sie ist entscheidend: von der Batterieproduktion bis zur Biotechnologie.«
In diesem Kontext macht die zum Patent angemeldete Schutzumhüllung 2ndSCIN® dynamische Automatisierungskomponenten wie zum Beispiel einen Roboter für die ultrareine Produktion einsatzbereit. Die Hülle besteht aus einem durchlässigen, beweglichen und mehrschichtigen Textil, das in seiner Funktionsweise der menschlichen Haut nachempfunden ist. Je nach Anwendung können zwei oder mehr Schichten übereinanderliegen. Die Schichten werden jeweils mit Abstandshaltern separiert. In jedem Zwischenraum kann zum Beispiel Luft eingesaugt oder abgeführt werden. So können Partikel entfernt werden, die aus der Umgebung oder von der Automatisierungskomponente stammen. Die Zuführung von Spezialgasen in die Zwischenräume des Systems ermöglicht beispielsweise deren Sterilisation. Darüber hinaus lässt sich die Hülle in etwa einer Stunde wechseln und kann nach einer Dekontaminierung wiederverwendet werden. Die Textilschichten sind zudem mit Sensoren ausgestattet, die kontinuierlich Parameter wie Partikelkonzentration, chemische Kontamination, Druck oder Feuchtigkeit messen. KI-basierte Algorithmen werten diese Sensordaten aus und ermöglichen beispielsweise eine vorausschauende Wartung. »2ndSCIN® ist extrem variabel im Aufbau, sodass wir individuelle Bedarfe umsetzen können«, erklärt Gommel. »So adressieren wir viele Anforderungen an reinheitstaugliche Schutzhüllen für Reinraumkomponenten, die bisherige Produkte nicht erfüllen.«
Maschinelles Lernen erklären
In der Robotik wie auch in zahlreichen anderen Einsatzfeldern in Produktion und Dienstleistung kommen zunehmend maschinelle Lernverfahren und künstliche neuronale Netze zum Einsatz. Je nach Anwendung wird es immer wichtiger und mitunter auch rechtlich erforderlich, zu wissen, wie diese arbeiten und warum sie zu einem Ergebnis kommen. Sie müssen erklärbar werden. Das ist aufgrund ihrer Komplexität bisher oft noch nicht möglich. »Je leistungsfähiger ein neuronales Netz, desto schwieriger ist es zu verstehen«, erklärt Professor Marco Huber, der am Fraunhofer IPA das Zentrum für Cyber Cognitive Intelligence (CCI) und die Abteilung Bild- und Signalverarbeitung leitet.
Auf der automatica präsentiert das Fraunhofer IPA deshalb unter dem Motto »Explainable AI« (xAI) Verfahren, die Entscheidungen von neuronalen Netzen visualisieren und für den Anwender transparent und nachvollziehbar machen. »Diese Nachvollziehbarkeit stärkt die Akzeptanz von KI, schafft Vertrauen, verbessert die korrekte Funktionsweise und gibt Rechtssicherheit«, erklärt Huber. Die Verfahren zur Erklärbarkeit sind für alle Anwendungen geeignet, die neuronale Netze oder maschinelles Lernen nutzen und insbesondere sicherheitskritisch oder stark reguliert sind.
Produktionsprozesse transparenter und effizienter machen
Wenn die Gesamtanlageneffektivität oder »Overall Equipment Effectiveness (OEE) einer (teil-)automatisierten Produktionsanlage nicht das gewünschte Niveau erreicht, muss der Grund für die Abweichung identifiziert werden. Dabei gilt es, den Produktionsprozess so detailliert wie möglich zu untersuchen. Analysen auf MES- oder SCADA-Ebene betrachten den Produktionsprozess zusammenfassend und geben keinen Aufschluss über Ursachen innerhalb des Prozesses. Die zunehmende Vernetzung in der Produktion hingegen eröffnet neue Wege in der Produktionsoptimierung. Hier knüpft die autonome Produktionsoptimierung an. Durch den Zugriff auf verschiedene Datenquellen kann der Produktionsprozess transparent gemacht und darauf aufbauend die OEE autonom optimiert werden.
Die Umsetzung dieser Vision – Maximize Overall Equipment Effectiveness – demonstriert das Exponat »MOEE«, das eine automatisierte Produktionsanlage nachbildet. Diese wird sowohl über die Steuerung als auch über externe Sensorik wie Lichtschranken oder Kameras beobachtet. Diese Beobachtungsquellen werden genutzt, um ein Verhaltensmodell der Linie zu erstellen. Dies ermöglicht, die Linie kontinuierlich online zu analysieren und so das Normalverhalten zu erfassen sowie darauf basierend Engpässe oder Produktionsverluste zu identifizieren. »Mit dieser Vorgehensweise schaffen wir bei unseren Kunden Prozesstransparenz und decken automatisiert ihre Optimierungspotenziale auf«, erklärt Yannick Mayer, Wissenschaftler am Fraunhofer IPA und Mitentwickler von MOEE.
Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA
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