- Messe
Dr. Lutz Retzlaff
MEDICA HEALTH IT FORUM: Blick in die Zukunft der digitalisierten Medizin
Raus aus der „analogen Gemütlichkeit“, rein in eine moderne Versorgung – mit viel Hilfe Künstlicher Intelligenz
Das MEDICA HEALTH IT FORUM zählt zu den „Klassikern“ im Programm der weltführenden Medizinmesse MEDICA. Was Anfang der 90iger Jahre unter dem Label `MEDICA Informatica´ als Sonderschau für Arztpraxis-Software startete, hat sich längst zum internationalen Trendsetter-Treffpunkt entwickelt für den generellen Blick in die Zukunft der digitalisierten Medizin. Das belegt einmal mehr das diesjährige Programm des englischsprachigen Forums. Während der Laufzeit der MEDICA 2021 in Düsseldorf (15. bis 18. November) geht es um Themen wie „Virtual Care & Digital Therapeutics ” oder „Medical Artificial Intelligence & Robotics” sowie „Fields of Innovation" bis hin zu „Societal aspects of digitized healthcare“. Neuerung in diesem Jahr: Dem hybriden Veranstaltungskonzept der MEDICA folgend können die Expert Panels, Tech Talks und Deep Dive Sessions mit entsprechendem Ticket entweder live in Präsenz (an der Bühne des Forums in Halle 12) oder als Stream über das Branchenportal MEDICA.de mitverfolgt werden. Wer nach Düsseldorf kommt, findet außerdem auf der angegliederten Ausstellungsfläche themenbezogene Exponate zu Projekten aus Hochschulen und Forschungseinrichtungen.
Ein wichtiger Trend in der Gesundheits-IT ist, das Anwenderverhalten zu beeinflussen. So lautet etwa das Motto des Entwicklerteams der MIKA-App: „Du kannst mehr als behandelt werden. Du kannst selbst handeln.“ Als erste digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) für Krebspatientinnen und Krebspatienten ist die MIKA-App im Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgenommen worden – und Dr. Jan Simon Raue, Founder & MD, MIKA wird beim MEDICA HEALTH IT FORUM zu den ersten Referenten am Montag, 15. November, gehören. Mentale Gesundheit zu fördern, ist eines der Ziele. Beispielsweise werden in Themenreisen Resilienz-Kräfte trainiert oder Hilfen gegeben, mit Gefühlen wie Angst und Kontrollverlust umzugehen.
Auf Basis verhaltenstherapeutischer und neurowissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelt das Digital-Health-Unternehmen aidhere Gesundheitsanwendungen wie zanadio. Dies ist die erste App, die Ärzte für die Behandlung von starkem Übergewicht bei einem BMI von 30 bis 40 verordnen können. zanadio basiert auf den Wirkprinzipien der etablierten konservativen Adipositas-Therapie und setzt diese digital um. Auf Basis der eingegebenen Daten gibt sie Patienten personalisierte Empfehlungen. Dr. Nora Mehl, Co-Founder & Managing Director, aidhere GmbH, wird dies erläutern.
Digital Drugs: Wenn Softwarereize Körperreaktionen auslösen
Digital Drugs sollen mit rein softwaregenerierten medizinischen Reizen eine direkte physiologische Reaktion auslösen. Das ist eines der Themen, mit denen sich Flying Health beschäftigt. Dessen Spin Offs Dopavision und Neuraltrain entwickeln solche Digital Drugs für Kurzsichtigkeit und psychische Gesundheit und wollen damit die nächste Generation der Gesundheitsversorgung prägen. Zudem arbeitet Flying Health mit der `Schwester Euthymia Stiftung´ an der Weiterentwicklung und Umsetzung der zukunftsorientierten IT-Strategie für deren drei Klinikstandorte. Lina Behrens, Managing Director von Flying Health wird die Session moderieren, an der auch mit Monika Rimmele, Head of Digital Transformation, Siemens Healthineers, teilnimmt.
Final entscheidet der Mensch
Um „Virtual Triage“ geht es um 16 Uhr am Montag (15.11.). Dann wird Dr. Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), in seinem Forum-Beitrag den Stand bei der Arbeit mit „SmED“ (Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland) erläutern. Damit ist der Name der Software bezeichnet, die das medizinische Fachpersonal in den Telefonzentralen der deutschen Servicenummer 116117 bei der Beurteilung akuter gesundheitlicher Beschwerden unterstützt. Dabei entscheidet nicht allein die Software über die Ersteinschätzung. Von Stillfried betont: „Bei uns entscheidet der Mensch.“ Und auch die Menschen in der Telefonzentrale stellen keine Diagnose. Vielmehr geben sie den Ratschlag, wie der Anrufende Kontakt zur passenden Versorgungsebene findet: Ist er/ sie ein echter Notfall und muss eventuell sogar der Rettungswagen gerufen werden? Oder kann er/ sie sich Zeit lassen und sich in den nächsten Tagen an den Arzt des Vertrauens wenden?
Erfahrungen aus eineinhalb Jahren liegen jetzt vor: „Zwei Drittel der Anrufenden fallen in die Kategorien `schnellst möglich´ und `binnen 24 Stunden´“, schildert von Stillfried und konkretisiert: „Wenn angerufen wird, dann besteht ein gewisser Versorgungsbedarf.“ Bei weniger als einem Fünftel der Patienten empfehle die Software, das Krankenhaus aufzusuchen, ergänzt von Stillfried. Die meisten rufen allerdings zu Zeiten an, in denen der Bereitschaftsdienst schnell verfügbar ist und ein Krankenhaus meist nicht aufgesucht werden muss. Die Hotline 116117 soll noch in diesem Jahr durch eine digitale Selbsteinschätzung ergänzt werden, die ebenfalls auf SmED basiert. Einige Kassenärztliche Vereinigungen werden dann mit einem Testlauf dazu starten.
Hotline mit schlauem Netzwerk im Hintergrund
Hilfesuchende können die Ersteinschätzungssoftware dann auf der Website 116117 aufrufen, ein Feedback einholen und danach entscheiden, ob sie weitere Unterstützung benötigen. Wenn ja, rufen sie die 116117 an und können dann über eine PIN einen Einblick in ihr Assessment geben, damit ihnen ein konkretes Versorgungsangebot vermittelt werden kann. SmED ist ein neuronales Netzwerk, das für rund hundert kombinierbare Symptome samt vertiefende Frage-Antwort-Kombinationen und damit mehr als fünfzig Millionen Abfragemöglichkeiten anbietet. Am Ende münden alle Optionen in neun Endpunkte, die ihrerseits Kombinationen aus Dringlichkeit und Versorgungsebene darstellen. SmED setzt aber keine Künstliche Intelligenz ein, um aus den Fragen Schlüsse zu ziehen und keinesfalls ersetzt es eine ärztliche Diagnostik. Sollte allerdings der Ärztemangel weiter zunehmen und mit SmED gute Erfahrungen gesammelt werden, dann wäre es auch in geeigneten Fällen statt eines Arztbesuches zunächst als Selbsthilfemaßnahme zu empfehlen.
Schlüsse aus der Pandemie für die virtuelle Versorgung der Zukunft
Natürlich wird die COVID-2-Pandemie und vor allem die Zeit danach thematisiert. Auch nach der Pandemie dürfe es keine Rückbesinnung auf die analoge Gemütlichkeit zu Zeiten vor der Pandemie kommen, warnte der Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung kurz vor der Bundestagswahl. Dr. Anne Sophie Geier, Geschäftsführerin des Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung, wird beim MEDICA HEALTH IT FORUM am Montag, 15. November, an einem Expertenpanel zur Zukunft der virtuellen Versorgung in postpandemischen Zeiten teilnehmen. Wobei der Wissenschaftliche Beirat der AOK Nordost bereits im März dieses Jahres feststellte, dass nach der Pandemie vor der Pandemie sei. „In nicht zu überbietender Deutlichkeit hat sich gezeigt, wie schädlich die Versäumnisse auf dem Weg zu einer umfassenden Digitalisierung gerade in Bereichen wie dem Gesundheitswesen und den Bildungseinrichtungen, aber auch der allgemeinen Verwaltung sind“, ließ der Beirat verlauten. Dessen Gremium-Sprecherin, Inga Bergen, wird als Referentin in Düsseldorf am Montag ebenfalls bei dem Expertenpanel mit dabei sein. Die Leitung des Panels zu virtueller Versorgung nach der Pandemie hat Dr. Sarah J. Becker, Institute for Digital Transformation in Healthcare in Witten, inne.
„Digitaler Engel“ für Pflegekräfte
Auf die Pflegenden konzentriert sich das Projekt „Digitaler Engel“. Ein wichtiger Teil der Plattform besteht dabei aus den Algorithmen zur Erkennung von Stress. Diese analysieren die EKG-Daten von Pflegenden und leiten daraus Indikatoren von Stress ab. Anhand der Indikatoren soll die Plattform bewerten können, wann eine Pflegekraft stark beansprucht ist und über das Assistenzsystem geeignete Maßnahmen vorschlagen. Entwickelt wird dies am Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST und durch Dr. Sebastian Dries in Düsseldorf als Abteilungsleiter Gesundheitswesen in der Forum-Session am 15.11., ab 16 Uhr, vorgestellt.
Maschinelle Erkennung von Emotionen
Der Dienstag, 16. November, startet dann beim MEDICA HEALTH IT FORUM mit Emotionen und deren maschineller Erkennung. Unter der Überschrift „Medical Artificial Intelligence & Robotics“ geht es um „Affective Computing“, also um Systeme und Geräte, die menschliche Gefühle erkennen, interpretieren, verarbeiten und simulieren können. So entwickelt das Projekt EmmA ein mobiles Assistenzsystem, das zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz sowie bei der betrieblichen Wiedereingliederung nach einer psychischen Erkrankung genutzt werden kann. Ausgangspunkt ist eine multimodale Echtzeit-Sensoranalyse mit Hilfe von Smartphones, die physiologische und soziale Signale interpretiert. Forum-Referent ist der Leiter der entsprechenden Arbeitsgruppe Kognitive Assistenzsysteme am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, Dr. Patrick Gebhard. Das bayerische Unternehmen Audeering will sogar anhand von Audioaufnahmen erkennen, ob eine COVID-19-Erkrankung vorliegt. Es hat sich auf dem Gebiet der KI-basierten Audioanalyse einen weltweit guten Namen gemacht – vor allem mit dessen skalierbaren und schnellen Technologie, um Emotionen aus Audio-Signalen zu erkennen. Nun stellt das Unternehmen eine App zur Erkennung von Corona anhand von Audioaufnahmen zur Verfügung. Dagmar Schuller, Mit-Gründerin von audEERING, wird in Düsseldorf referieren. Angefragt ist auch Gottfried Wilhelm Leibniz-Preisträgerin Prof. Elisabeth André, Augsburg. Sie etablierte beispielsweise die Schmerzerkennung als relevante Fähigkeit für Gesundheitsassistenz, die auf lernenden Maschinen basiert. Ihre Arbeit wird heute insgesamt genutzt, um Roboter oder virtuelle Charaktere mit der Fähigkeit auszustatten, Gefühlsregungen eines Menschen zu erkennen und darauf zu reagieren.
Auch an den weiteren Tagen des Forums werden wertvolle Ausblicke auf Gegenwart und Zukunft der Digitalisierung im Gesundheitswesen gegeben. Anette Ströh, Project Manager Digital Health and Scouting beim Berlin Institute of Health, wird die Diskussion am Mittwoch, 17. November, zum Thema „Design Justice“ moderieren: Nutzerzentriertes Design kann die Gesundheitsversorgung von der „Behandlung von Krankheiten“ zur „Unterstützung persönlicher Ziele“ ändern. Und am Donnerstag, 18. November, geht es unter anderem darum, wie die neue Arbeitsweise in der Gesundheitsversorgung aussehen könnte – oder wie digital Gesundheitstechnologien Flüchtlingen helfen könnten.
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