Dipl.-Ing. Helene Schöngruber Bsc, Dipl.-Ing. Christoph Lhota
Auf den Kopf gestellt
Neues Reinraumkonzept für Hochtemperaturanwendungen
Hohe Temperaturen sind im Reinraum unerwünscht. Beim Spritzgießen lassen sie sich jedoch nicht vermeiden. Forschungsarbeiten zum Einfluss der Werk-zeugtemperatur auf die laminare Reinluftströmung machen die Brisanz des Themas deutlich und legen gleichzeitig die Basis für ein völlig neues Rein-raumkonzept mit umgekehrter Luftführung. Erste industrielle Umsetzungen versprechen viel Potenzial für eine noch höhere Reinraumqualität.
Zum Spritzgießen thermoplastischer Kunststoffe wird das Granulat im Massezylinder erwärmt, bis es einen viskosen oder flüssigen Zustand erreicht hat, und in das temperierte Werkzeug eingespritzt. Die Temperatur des Werkzeugs ist ein materialspezifischer Parame-ter, der den Prozessverlauf und insbesondere die Zykluszeit maßgeblich beeinflusst. Zusätzlich beeinflusst die Werkzeugtemperatur die Luftströmung, was beim Spritzgießen im Reinraum Prozessrelevanz erreicht. Die vom Werkzeug abgestrahlte warme Luft steigt nach oben und wirkt damit der herkömmlich von oben nach unten gerichteten Reinraumströmung entgegen (Bild 1). Mit zunehmender Temperatur steigt die Partikellast an, was die Reinraumqualität gefährdet. Schon bei einer ungleichmäßigen Durchströmung des Werkzeugbereichs kann es passieren, dass die Spritzgussteile nicht im vorgesehenen Ausmaß mit reiner Luft gesäubert werden und sich Partikel an den Teilen ablagern.
Schon ab 40 °C Einfluss nachweisbar
Im Rahmen einer Diplomarbeit wurde untersucht, ab welcher Werkzeugtemperatur der Einsatz einer herkömmlichen Filter Fan Unit (FFU) bzw. Laminar Flow Box unwirksam wird. [1] Die Versuche fanden im Reinraum des Spritzgießmaschinenbauers ENGEL AUSTRIA in Schwertberg, Österreich, statt. Die Laminar-Flow-Module vom Typ LMP wurden von Max Petek Reinraumtechnik (Radolfzell, Deutschland) zur Verfügung gestellt. Sie wurden in der Größe gezielt für den Einsatz auf Spritzgießmaschinen entwickelt.
Zum Vergleich wurde zum einen mit der normalen Strömung im Reinraum gearbeitet und zum anderen der Werkzeug- und Auswerferbereich zusätzlich mit einem LMP gekapselt. Um den Fluss der Luftströmungen zu visualisieren, wurde für beide Versuchsreihen von oben Nebel in den Werkzeugraum geleitet und das Werkzeug konstant erhitzt.
Bereits beim einfachen Versuchsaufbau ohne zusätzliches Laminar-Flow-Modul wurde festgestellt, dass schon eine Werkzeugtemperatur von 40 °C die Durchströmung des Werkzeugbereichs mit reiner Luft stört. Dieses Ergebnis macht die große Bedeutung dieser Forschungsarbeit deutlich, denn für die wenigsten Anwendungen ist eine so niedrige Werkzeugtemperatur ausreichend.
Mit dem LMP schließlich sollte eine noch konstantere Strömung von oben nach unten erreicht werden. Die Luftgeschwindigkeit wurde entsprechend der EU-GMP-Richtlinie auf 0,45 m/s eingestellt. Die Nebelversuche in dieser gekapselten Anordnung wurden in einem Video festgehalten. Die Standbilder machen deutlich, dass bei einer Werkzeugtemperatur ab 90 °C keine konstante Durchströmung mehr herrscht und es zu Verwirbelungen kommt (Bild 2). Die Verwirbelungen treten vor allem unmittelbar nach der Werkzeugöffnung auf, wobei sich nach vier Sekunden der Strömungsfluss wieder einpendelt und das Werkzeug wieder konstant durchströmt wird.
Dieselbe Messung wurde mit einer Werkzeugtemperatur von 140 °C wiederholt (Bild 3). Hier reichen vier Sekunden nicht aus, um die Verwirbelungen aufzulösen. Bei dieser hohen Werkzeugtemperatur ist die gesamte Luft im Werkzeugraum stark aufgeheizt und es werden ver-stärkt Partikel emittiert. Erst mit einer erhöhten Luftgeschwindigkeit von 0,8 m/s kann wieder eine ausreichend laminare Strömung nachgewiesen werden.
Werkzeugöffnungsgeschwindigkeit weitere Stellschraube
Neben der Temperatur nimmt auch die Geschwindigkeit der Werkzeugöffnung Einfluss auf die Luftströmung. Es wurden die Luftströmungen bei Öffnungsgeschwindigkeiten von 1100 mm/s und 220 mm/s untersucht. Die Versuche ergaben, dass eine langsame Bewegung der Werkzeugaufspannplatte weniger Turbulenzen als ein sehr schnelles Öffnen des Werkzeugs verursacht. Werden jedoch die Extreme ausgetestet, zeigt sich, dass ein zu langsames Öffnen die Luftverwirbelungen wieder verstärkt, da sich in der langen Zeit der Werkzeugöffnung die Luft zwischen den Werkzeughälften wieder erwärmt. Im Gegensatz dazu kann ein extrem schnelles Öffnen den Luftfluss stabilisieren, so dass Werkzeug und Spritzgießteile konstant mit reiner Luft überflutet werden. Um diese extremen Geschwindigkeiten darzustellen, wurden Werkzeugöffnungszeiten von 12 und 3 Sekunden untersucht. Die in Hinblick auf die Reinraumsicherheit optimale Öffnungsgeschwindigkeit hängt jeweils vom Fertigungsprozess und Werkzeug ab. In der Praxis können die Strömungseffekte beim Einstellen der Öffnungsgeschwindigkeit jedoch nicht immer ausreichend berücksichtigt werden. Auch die Medizintechnik unterliegt einem starken Kostendruck und gerade die Zykluszeit entscheidet maßgeblich über die Wirtschaftlichkeit.
Herausforderung Flüssigsilikon
Mit den beschriebenen Versuchen wurden wichtige Grundlagen für die weitere Betrachtung von Spritzgießprozessen im Reinraum erarbeitet. Ziel einer zweiten Diplomarbeit war es, darauf aufbauend Lösungsansätze zu entwickeln, die bei hohen Werkzeugtemperaturen eine hohe Reinheitsklasse gewährleisten. [2] Um auch für extreme Temperaturverhältnisse Aussagen treffen zu können, wurden die weiterführenden Versuche nicht mit Thermoplasten, sondern mit LSR (Liquid Silicon Rubber) durchgeführt. Das Besondere an Flüssigsilikon ist, dass das Material im Gegensatz zu Thermoplasten im Massezylinder gekühlt wird, während im Werkzeug deutlich höhere Temperaturen von 180 °C herrschen. Erst bei diesen hohen Temperaturen kann das LSR vulkanisieren und vernetzen. Erschwerend zu den hohen Werkzeugtemperaturen kommt hinzu, dass LSR bei der Verarbeitung ausgast. Bei hohen Temperaturen werden Silane freigesetzt, die schon mit bloßem Auge als Wolke sichtbar sind. Diese flüchtigen Bestandteile des Flüssigsilikons verunreinigen im laufenden Produktionsbetrieb zunehmend den Reinraum und die Partikelkonzentration kann schnell den für die jeweilige Reinraumklasse definierten Grenzwert übersteigen. Für die Versuche im Rahmen der Diplomarbeit wurde der Reinraum im ENGEL-Technikum auf ISO-Klasse 7 eingestellt. Schon nach wenigen Zyklen ergab die Partikelmessung eine zu hohe Konzentration an Partikeln mit einem Durchmesser von 0,5 µm.
Ein erster Ansatz zur Lösung dieses Problems bestand darin, den Werkzeugraum mit einem LMP zu kapseln, um damit die Silanwolke zu zerstäuben. Anders als herkömmlich üblich wurde die Reinluft jedoch nicht von oben, sondern von unten in den Werkzeugraum geleitet. Zum Abtransport der Silanpartikel sollte die im Reinraum bis dahin übliche Absaugung nach unten dienen. Der Erfolg blieb mit dieser Versuchsanordnung zwar aus, jedoch konnte bereits im Vergleich zur vorherigen Messung eine reduzierte Partikelkonzentration nachgewiesen werden, wenngleich diese noch nicht den Anforderungen der Reinraumklasse ISO 7 entsprach.
Simulation untermauert empirische Forschung
In einem zweiten Schritt wurde schließlich die Idee, die Luftströmung umzukehren, konsequent umgesetzt. Es wurde nicht nur die Reinluft von unten nach oben geleitet, sondern zudem die Nebelwolke nach oben aus dem Werkzeugraum herausgesaugt (Bild 4 und 5). Unterstützt durch die Thermik gewinnt die Nebelwolke schon in kurzer Zeit an Geschwindigkeit und wird stark verdünnt.
Um die Versuchsergebnisse zu untermauern, wurde der Versuchsaufbau simuliert (Bild 6). Zum Einsatz kam hierfür das Programm ANSYS in der Version R16.2 Academic. Die Berechnungen bestätigen das gute Ergebnis der Technikumsversuche und ermöglichen es, das Verhalten bei Veränderungen in den Umgebungsbedingungen vorherzusagen.
Max Petek Reinraumtechnik hat auf Basis dieser Ergebnisse eine Reinraumlösung mit umgekehrtem Laminar Flow entwickelt. Die Luft wird nach oben aus dem Werkzeugraum abgesaugt.
Erste industrielle Anlage umgesetzt
Die Ergebnisse der zwei in diesem Beitrag zitierten Diplomarbeiten machen deutlich, dass der Einfluss der Werkzeugtemperatur für einen sicheren Reinraumbetrieb nicht vernachlässigt werden darf. Bereits ab einer Werkzeugtemperatur von 40 °C wird die laminare Strömung gestört. Als Grenztemperatur für eine konventionelle, von oben nach unten verlaufende Reinluftströmung (ohne zusätzliches Laminar-Flow-Modul) wurde eine Werkzeugtemperatur von 110 °C ermittelt. Sowohl empirische Messungen als auch Simulationen belegen, dass sich durch eine Umkehrung der Reinluftströmung die Partikellast minimieren lässt.
ENGEL AUSTRIA und Max Petek Reinraumtechnik haben die Ergebnisse dieser Entwicklungsarbeit bereits industriell umgesetzt. Die neue Lösung hat das Potenzial, sich als Standard für Hochtemperaturanwendungen zu etablieren.
Literatur
1. Denisa Costas, Analysis of the impact of process temperatures on the cleanroom airflow during the injecting moulding of medical grade high performance thermoplastics, Diplomarbeit im Studiengang Medical Engineering an der Fachhochschule Oberösterreich, Linz, Österreich, 2015.
2. Helene Schöngruber, Identification and analysis of thermal flux in the cleanroom during liquid injection moulding, Diplomarbeit im Studiengang Medical Engineering an der Fachhochschule Oberösterreich, Linz, Österreich 2016.
ENGEL AUSTRIA GmbH
4311 Schwertberg
Österreich